Aufgrund des Ukraine-Konflikts haben in den letzten Wochen bereits einige Forschungsinstitute, internationale Organisationen und Banken ihre Wachstumsprognosen für das Jahr 2022 nach unten und die Inflationsprognosen nach oben revidiert. Davon betroffen waren weltweit nahezu alle Regionen und Volkswirtschaften.
So rechnet das Kiel Institut für Weltwirtschaft für das laufende Jahr noch mit einem globalen Wachstum in Höhe von 3,5 Prozent – 2,2 Prozentpunkte weniger als im Dezember. Für die Eurozone und Deutschland liegen die Wachstumsschätzungen bei 2,8 beziehungsweise 2,1 Prozent. Die Erwartung an die Inflationsrate hingegen wurde für Deutschland um 2,7 Prozentpunkte auf 5,8 Prozent im Jahresdurchschnitt angehoben. Die Welt erlebt nach der Corona Krise somit erneut einen stagflationär wirkenden Angebotsschock. Zwar bleibt das Basisszenario eines positiven Wachstums vorerst bestehen. Die Gefahr eines tatsächlichen Abrutschens in eine Stagflation ist aber zumindest für einige, besonders betroffene Regionen gestiegen, beispielsweise Europa.
Dabei wirken nicht nur die staatlich festgesetzten Sanktionen negativ. Viele Unternehmen schreiben derzeit ihre Russland-Beteiligungen ab beziehungsweise beenden ihre russischen Geschäftsaktivitäten, auch weil sie diese unter moralischen Gesichtspunkten nicht mehr für vertretbar halten. Internationale Schifffahrtsgesellschaften etwa transportieren nur noch Lebensmittel, medizinische Produkte und sonstige humanitäre Güter nach Russland. Direkte Auswirkungen auf einzelne Unternehmen hängen von individuellen Umsatz- beziehungsweise Gewinnanteilen in Russland oder der Ukraine und dem Ausmaß zusätzlich durch Sanktionen unterbrochener Lieferketten sowie kriegsbedingter Produktionsstopps ab.
Die gesamte Wirtschaft leidet jedoch unter stark gestiegenen Preisen für viele Rohstoffe, zumindest kurzfristigen Dämpfern für die Konsum- und Investitionsstimmung sowie erneuten Belastungen globaler Lieferketten. Hinzu kommen drohende Lebensmittelknappheiten im weiteren Jahresverlauf in vielen vor allem ärmeren Regionen weltweit.
Für die Eurozone liegen die Wachstumsschätzungen bei 2,8 Prozent
Noch besteht für Deutschland und die Eurozone trotzdem keine akute Rezessionsgefahr, denn die Industrie hat noch einen sehr hohen Auftragsbestand abzuarbeiten und Dienstleister profitieren von weiteren Lockerungen von Corona-Restriktionen. Diesem Bild entspricht beispielhaft das Ergebnis einer Blitzumfrage des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) von Anfang März. Demnach sahen 85 Prozent der befragten Unternehmen den Krieg als gravierendes oder merkliches Risiko für ihre Geschäfte an. Die Erwartungen an das Wachstum der Maschinenproduktion in Deutschland wurden für das laufende Jahr zwar ebenfalls von vorher sieben Prozent nach unten korrigiert, liegen mit einem Plus von vier Prozent aber immer noch deutlich im positiven Bereich.
Andere Umfragen unter Unternehmen, beispielsweise die Markit-Einkaufsmanagerindizes für Deutschland und die Eurozone, verdeutlichten zuletzt ebenfalls die stark gestiegene Unsicherheit. Zwar ist die Auftragslage der Unternehmen weiterhin positiv, die gestiegenen Kosten können weitgehend an die Endverbraucher durchgereicht werden und die Beschäftigung steigt, allerdings wurden die weiteren Geschäftsaussichten erheblich schwächer eingeschätzt. Das gleiche Bild zeichnete der ifo-Geschäftsklimaindex für die deutsche Wirtschaft. Vor allem der historisch beispiellose Einbruch der Erwartungskomponente sorgte für eine Eintrübung der Unternehmensstimmung in allen an der Befragung teilnehmenden Branchen, neben dem Verarbeitenden Gewerbe und Dienstleistern auch im Handel und in der Bauwirtschaft.
Vor allem der historisch beispiellose Einbruch der Erwartungskomponente sorgte für eine Eintrübung der Unternehmensstimmung
Aufgrund des kaum berechenbaren Fortgangs der militärischen Eskalation und möglicher zusätzlicher Sanktionen oder Gegensanktionen unterliegen Konjunkturprognosen weiterhin besonders großen Unsicherheiten, da sie in einem ohnehin sehr dynamischen und von der Corona-Pandemie sowie globalen Lieferkettenproblemen belasteten Umfeld erfolgen. Sollten beispielsweise Rohstofflieferungen aus Russland komplett eingestellt werden, wäre zumindest für Europa ein nochmaliger Preisschock und damit eine Rezession über einige Quartale wohl nicht zu vermeiden.
Ein weiterer, zumindest kurzfristiger Belastungsfaktor für die weltwirtschaftlichen Perspektiven entwickelt sich derzeit zudem in China im Zuge deutlich erhöhter Corona-Neufallzahlen. Zwar ist die Anzahl neuer Corona-Fälle im Vergleich zur Vorwoche zuletzt deutlich gesunken, trotzdem wurden für einige Millionenstädte rigorose Lockdowns verordnet. Auch Produktionsstätten mussten geschlossen werden und bei der Verladung von Containern gab es pandemiebedingte Verzögerungen. Aufgrund relativ niedriger Impfquoten bei alten Bevölkerungsgruppen und der schlechten Wirksamkeit chinesischer Impfstoffe gegen die Omikron-Variante dürfte man in Peking vorerst daran festhalten, kleinere Ausbrüche im Keim zu ersticken (No-Covid-Strategie) und die wirtschaftliche Entwicklung damit belasten. Die Erreichung des Wachstumsziels der chinesischen Regierung in Höhe von 5,5 Prozent für dieses Jahr ist daher derzeit nicht realistisch, auch wenn die Wirtschaft von geld- und fiskalpolitischer Seite wieder stärker unterstützt wird.
In den USA hingegen legte die wirtschaftliche Dynamik zuletzt zu. US-Unternehmen können sich von den negativen Auswirkungen der Ukrainekrise bisher deutlich abkoppeln. Vor allem die positive Beschäftigungslage, steigende Löhne und die Möglichkeit der Unternehmen, gestiegene Kosten auf die Abnehmerpreise umzulegen, ließen hier die Einkaufsmanagerindizes steigen.
Der an den internationalen Kapitalmärkten seit Mitte März wieder spürbare Optimismus mit teils deutlich steigenden Aktienkursen könnte sich vor dem Hintergrund der realwirtschaftlichen Situation daher als verfrüht erweisen – zumal ein weiterer Schlüsselfaktor für das Börsengeschehen, die Geldpolitik, in vielen Volkswirtschaften bereits auf einen klar restriktiven Kurs mit der Folge steigender Zinsen eingeschwenkt wurde.

Carsten Mumm, CFA, ist Chefvolkswirt bei der Privatbank Donner & Reuschel. Er verantwortet die Erstellung der hauseigenen Kapitalmarktmeinung und -publikationen sowie deren Präsentation in Veranstaltungen, Öffentlichkeit und Medien. Seit 2021 ist Mumm Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken. Für die EBC Hochschule in Hamburg ist Mumm als ehrenamtlicher Mentor tätig und hält Praxisvorlesungen zu den Themen Kapitalmarkt und Portfoliomanagement. Seit 2017 ist er zudem Lehrbeauftragter an der International School of Management (ISM) und Mitglied des Verwaltungsausschusses des Versorgungswerkes der Rechtsanwälte Schleswig-Holstein.