Technologisches Wettrüsten: Die Finanzbranche wappnet sich KI-Sprachmodelle als Transformationsbeschleuniger

Sie wird bei der Anlagestrategie genutzt, als Chatbot beim digitalen Kundengespräch und bei der Kreditentscheidung: Künstliche Intelligenz (KI) ist längst bei Finanzunternehmen angekommen. Vor allem große Datenmengen (Big Data) und deren automatisierte, durch KI gestützte Verarbeitung gilt seit Jahren als einer der Gamechanger und Schlüssel zur digitalen Transformation. Im vergangenen Herbst wurde der Hype mit dem Erscheinen des Chatbots ChatGPT zusätzlich verstärkt – und damit die Angst der Unternehmen, beim technologischen Wettrüsten den Anschluss zu verlieren.

Die Einsatzmöglichkeiten für die vom US-Unternehmen OpenAI als Neurolinguistisches Programmiertool (NLP-Tool) entwickelte KI-Anwendung ChatGPT sind vielfältig in der Finanzwirtschaft. Vor allem die Verarbeitung großer Mengen Daten könnte erleichtert werden. In einem Research Paper der Univerity of Chicago wurde der Nutzen von generativen KI-Tools wie ChatGPT für die Extraktion von Informationen aus Unternehmensberichten untersucht, darauf verweist das Verlags- und Research-Haus Absolut Research. Das Ergebnis: Investoren können generative KI-Systeme nutzen, um die Informationsüberlastung bewältigen zu können. Hauptbotschaften werden dabei beibehalten und verstärkt. Ebenso können gezielte Zusammenfassungen für bestimme Themen erstellt werden, darunter ESG-bezogene Aktivitäten.

Eine Studie des McKinsey Global Institute (MGI), dem volkswirtschaftlichen Think Tank der Unternehmensberatung McKinsey & Company, zeigt zudem: Technologien wie ChatGPT können theoretisch einen jährlichen Produktivitätszuwachs von 2,6 bis 4,4 Billionen US-Dollar ermöglichen. Dies liegt in der Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts des Vereinigten Königreichs im Jahr 2021 von rund 3,1 Billionen US-Dollar. Im Vergleich zu bisherigen Ausprägungen von KI und Analytik, etwa Machine Learning und Deep Learning, würde dies eine zusätzliche Steigerung um zehn bis 40 Prozent bedeuten. Etwa 75 Prozent des geschätzten Werts wird GenAI in den Bereichen Kundenservice, Marketing und Vertrieb, Softwareentwicklung sowie Forschung und Entwicklung schaffen – und damit in stark wissens- und personalbasierten Bereichen. Der Verband der Investment Professionals DVFA ermittelte im März 2023, dass unter den 1.400 Mitgliedern des Verbandes bereits ein Drittel (35 Prozent) mit ChatGPT Texte schreiben lässt – obwohl der Chatbot erst seit November 2022 öffentlich zugänglich ist. Die neue Technologie, so vermutet der DVFA, könnte die Branche innerhalb kurzer Zeit tiefgreifend verändern. Vor allem Kostenersparnis und Umsatzsteigerung erhoffen sich die Unternehmen. In einer Studie des US-Chipkonzerns Nvidia aus dem Frühjahr 2023, für die rund 500 Experten der Finanzbranche in Europa und Nord-, Mittel- und Südamerika befragt wurden, gab mehr als ein Drittel der Umfrageteilnehmer an, dass KI dazu beitragen könnte, die jährlichen Kosten um mindestens zehn Prozent zu senken. Die befragten Unternehmen nutzen am häufigsten Sprachmodelle (26 Prozent), danach folgen Empfehlungssysteme (23 Prozent) und Portfolio-Optimierung (23 Prozent).

Sprachmodelle als Chance zur Produktivitätssteigerung

Auch Acatis verwendet Sprachmodelle, so das Ergebnis einer Umfrage, die EXXECNEWS unter Finanzunternehmen durchführte. Der Investmentmanager, der KI bereits seit Längerem im Portfoliomanagement anwendet, setzt die KI hauptsächlich für Texte, Übersetzungen und sprachliche Optimierungen ein. „Wir nutzen ChatGPT, um Stichpunkte zu einem Fließtext mit einer bestimmten Zeichenanzahl zu formulieren. Anschließend nehme ich gerne den Textvorschlag und lasse ihn durch DeepL Write überarbeiten und wenn nötig durch DeepL ins Englische übersetzen. Seit der Veröffentlichung von ChatGPT vor knapp einem halben Jahr erscheinen fast täglich neue Anwendungen, die auf dieser Technologie basieren“, sagt Kevin Endler, Leiter des quantitativen Portfoliomanagements von Acatis. „Die derzeitigen Programme sind nur ein Zwischenstand einer rasanten Entwicklung, deren Ende überhaupt nicht zu erkennen sind“. Als größte Chancen von ChatGPT sieht er die Produktivitätssteigerung, die Wissensvermittlung und die kreativen Anwendungen, etwa bei der Generierung von Ideen. Die größten Risiken: Unter anderem Fehlinformationen, da das Modell die Voreingenommenheit der Daten widerspiegelt, auf denen es trainiert wurde sowie Probleme beim Datenschutz.

Der Asset Manager Union Investment beobachtet das Thema ebenfalls mit großem Interesse, so heißt es auf EXXECNEWS-Nachfrage. Während KI-Dialogsysteme momentan zentral noch nicht eingesetzt werden, nutzt die Tochtergesellschaft Visualvest ChatGPT. Der Plattform-Anbieter hat im Februar 2023 als erster Robo-Advisor GPT-3 in sein Angebot integriert. Die auf dem GPT-Sprachmodell (Generative Pretrained Transformer) gestützte künstliche Intelligenz, die auch im Chatbot ChatGPT zum Einsatz kommt, liefert Inhalte für den hauseigenen digitalen Kunden-Coach „KuCo“. Das digitale Tool ist ein Conversational Interface, das Anlegern Tipps und Hilfestellungen zu unterschiedlichen Themenbereichen der Geldanlage gibt.

Datenabfrage, Risikoeinschätzung, Beratung zur Altersvorsorge – dies sind nur einige der Anwendungsbereiche, die in einem anderen Segment zum Einsatz kommen – der Versicherungswirtschaft. Und das alles ohne menschliche Voreingenommenheit, Stichwort „Bias“. Die Allianz etwa arbeitet seit einem Jahrzehnt an und mit KI. „Unser Ansatz: KI kommt aus dem Geschäft heraus – wir setzen KI nicht um der KI willen ein, sondern um für unsere Kundinnen und Kunden schneller und besser zu werden. Die Einsatzmöglichkeiten von KI im Versicherungsbereich sind vielfältig, dazu gehören etwa die Prüfung und der Quercheck von Dokumenten genauso wie die Beurteilung von Haftungsrisiken und eine schnellere Auszahlung“, sagt Peter Heise, Chief Data Officer bei der Allianz Versicherungs AG, auf Anfrage von EXXECNEWS. „Wir erproben Large Language Models (große KI-Sprachmodelle) für verschiedene Einsatzgebiete, wo wir einen klaren Mehrwert für Kundinnen und Kunden und unser Geschäft sehen. In der Sachversicherung setzten wir KI bereits an einigen Stellen ein. Zum Beispiel bei der automatischen Schadenbewertung anhand von Bildern oder beim digitalen Unfallmelder. Der Unfallmelder gehört seit Juli 2021 zum festen Serviceangebot im Schadenfall: Unfälle werden automatisch erkannt und an den Schadenexperten der Allianz weitergeleitet“, so Heise. Der Einsatz der KI sei eine Chance. Gerade bei repetitiven Aufgaben werde ein großer Produktivitätsbeitrag gesehen. „Wir sehen, dass große KI-Sprachmodelle wie ChatGPT sehr gut für allgemeine Sprache und Anliegen funktionieren. Auf spezifische Sprache, wie sie zum Beispiel in Schadenmeldungen oder Versicherungspolicen vorkommt, sind sie allerdings noch nicht ausgelegt: ChatGPT weiß nicht alles, was die Allianz über unsere Produkte und die richtige Absicherung weiß“, so Heise.

Eine gewisse Skepsis herrscht in Sachen KI-Sprachtools auch im Bankensegment. Einige Investmentbanken wie etwa die Bank of America, Goldman Sachs und auch die Deutsche Bank führen laut Bloomberg Beschränkungen für die Technologie ein und setzen verstärkt auf die eigene Entwicklung intelligenter Chatbots. Mitarbeitern sei demnach die geschäftliche Nutzung von ChatGPT verboten – angeführt wurden Sicherheitsbedenken. Ähnlich äußert sich auch die Commerzbank auf EXXECNEWS-Anfrage. Die Bank beschäftigt sich seit langem mit dem Einsatz von KI und setzt „vertrauenswürdige Methoden“ zielgerichtet bereits in verschiedenen Themenfeldern ein. Laut Thomas Stadje, Chapter Lead Data Scientists – Cost, Risk and Fraud Analytics bei der Commerzbank, sind dies die Bereiche Prozessoptimierung (zum Beispiel automatisierte Analyse von Dokumenten und Nachrichten, Talk- und Chatbots), Erkennung und Vermeidung von Risiken (zum Beispiel zur frühzeitigen Erkennung von Kreditbetrug sowie Cyberrisiken, Unterstützung von Know Your Customer Prozessen) sowie die Unterstützung der Kunden und Marketingaktivitäten (zum Beispiel durch automatische Klassifikation von Kontokorrent- und Kreditkartenbuchungen für den digitalen Finanzassistenten, für zielgerichtete Empfehlungen). „Künstliche Intelligenz (KI) und Maschinelles Lernen (ML) sind für die Zukunft der Bankenbranche von großer Bedeutung, um den vielfältigen Herausforderungen des digitalen Zeitalters und den daraus entstehenden zusätzlichen (Cyber-) Risiken zu begegnen. Die Implementierung von KI und ML in der stark regulierten Bankenbranche ist jedoch komplex. Deswegen braucht es einen risikobasierten Ansatz, der die Vorteile dieser Technologien mit den verbundenen regulatorischen Hürden abwägt. Daher haben wir eine Strategie zum Einsatz von KI und ML entwickelt, die sich auch intensiv mit den Risiken beschäftigt“, so Stadje. Die Commerzbank habe kürzlich ein White Paper veröffentlicht, das den risikobasierten Ansatz der Bank für ML-Governance erläutert. Außerdem werde die regulatorischen Entwicklungen rund um die KI-Regulierung sehr genau beobachtet.

EU verabschiedet Gesetz zur Regulierung

Unter Beobachtung ist das Thema auch bei der Europäischen Union (EU). Diese hat den „Artificial Intelligence Act“ (AI Act) zur Regulierung der KI verabschiedet. Einen ersten Vorschlag hat die EU-Kommission bereits im Frühjahr 2021 vorgelegt, die Abstimmung darüber erfolgte am 14. Juni 2023 im Europaparlament. Nun beginnt der Trilog des Gesetzgebungsverfahrens, in dem Europäisches Parlament, Europäische Kommission und Europäischer Rat die finale Version der Regulierung verhandeln. Gefunden werden soll eine Balance zwischen Sicherheitsbedürfnis und Innovationsfreiheit – unter anderem durch eine Klassifizierung der KI-Anwendungen in Risikostufen. Allerdings sorgt auch der Regulierungsrahmen für Zündstoff. Der Digitalverband Bitkom etwa warnt davor, KI durch ein Übermaß an Regulierung aus Deutschland und Europa zu vertreiben. „Wie Europa sich zur Künstlichen Intelligenz verhält, wird großen Einfluss auf unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit und unseren Wohlstand haben. Die vergangenen Monate haben mit Durchbrüchen rund um generative Künstliche Intelligenz wie ChatGPT angedeutet, welch enormes Potenzial diese Technologie besitzt. Mit Verboten oder übertrieben strengen Auflagen, wie sie von den Mitgliedern des europäischen Parlaments teilweise diskutiert wurden, werden wir allenfalls dafür sorgen, dass KI-Entwicklung künftig außerhalb Europas stattfindet und Expertinnen und Experten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern ihr Wissen anderswo einsetzen“, führt Bitkom-Präsident Achim Berg in einer Mitteilung des Verbandes aus. Es müsse jetzt darum gehen, auf der Zielgeraden im Gesetzgebungsverfahren die Schwächen des Vorschlags zu korrigieren. Es komme darauf an, nur solche Anwendungen scharf zu regulieren, von denen in der Anwendungspraxis tatsächlich massive Gefahren und Risiken ausgehen können. Diese Ansicht vertritt auch der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). „Wir wollen für Europa nicht nur das erste, sondern auch ein hervorragendes KI-Gesetz haben“, so Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des GDV. Daher sollten die neuen Regeln nach Möglichkeit keine Innovationen verhindern. Dafür setze sich der Verband im Trilog der EU-Institutionen ein. „Es ist richtig, dass nur Systeme mit selbstlernenden Elementen als KI gelten sollen. Das sollte in der Verordnung noch klarer geregelt werden“, sagt Asmussen. Eine Einstufung von Risikobewertung und Tarifierung als hochriskant lehnt der GDV ab. Dies führe zu Doppelungen und Überschneidungen mit bereits bestehenden Regelungen.

Über die exakte Ausformulierung des Gesetzes wird also noch zu diskutieren sein, über eine Notwendigkeit einer Regulierung indes nicht. Bis das Gesetz in Kraft tritt, setzt die EU auf Eigenverantwortung – die der Entwickler und auch der Nutzer in Finanzunternehmen.

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