Der vierteljährlich vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ermittelte „World Uncertainty Index“ unterstrich kürzlich die negative Wirkung des Ukrainekonflikts auf die globale Wirtschaft. Zwar sind durch direkte Handelsrestriktionen und den Rückzug von Unternehmen aus Russland vor allem europäische Volkswirtschaften betroffen, während explodierende Nahrungsmittel-, Rohstoff- und Energiepreise weltweit spürbar sind.
Doch je länger der Konflikt anhält, umso stärker steigt die globale Unsicherheit zu den weiteren wirtschaftlichen Perspektiven, wie die jüngste Veröffentlichung des in 143 Ländern ermittelten Unsicherheitsindex unterstreicht. Weitere Sanktionen gegenüber Russland sowie eine mögliche Verschärfung der Nahrungsmittelknappheit, beispielsweise durch Missernten in anderen Regionen außerhalb des Kriegsgebiets, könnten die wirtschaftlichen Aussichten noch stärker eintrüben.
Besonders leidtragend sind dabei viele Schwellenländer. Derzeit profitieren ausschließlich die rohstoffexportierenden Volkswirtschaften von den massiv gestiegenen Rohstoffpreisen. Die meisten Schwellenländer sind allerdings von Rohstoff- und vor allem Nahrungsmittelimporten abhängig. Nach einer ohnehin nur sehr schleppenden Erholung von der Corona-Rezession droht jetzt ein erneuter sozialer und wirtschaftlicher Rückschlag. Jahrelange Bemühungen, die Wohlstandsniveaus der Schwellenländer näher an die Industrienationen heranzuführen, werden damit zunichtegemacht.
Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute revidierten im Rahmen ihrer Gemeinschaftsdiagnose die diesjährige Wachstumsprognose für Deutschland auf nur noch 2,7 Prozent nach unten. Die Inflationserwartung für den Jahresdurchschnitt 2022 wurde hingegen mit 6,1 Prozent höher als noch im Herbst veranschlagt. Aufgrund der außergewöhnlichen Unsicherheiten stellten die Konjunkturforscher neben diesem noch positiven Basisszenario ein Risikoszenario vor, demzufolge im Falle eines Stopps russischer Gaslieferungen das Wachstum in diesem Jahr nur 1,9 Prozent betragen und im Jahr 2023 sogar deutlich negativ ausfallen würde. Die Inflation würde in diesem Fall auf 7,3 Prozent ansteigen. Nimmt man weitere schwelende Unsicherheitsfaktoren, wie die Corona-Pandemie, die noch immer massiv gestörten globalen Lieferketten und die bereits begonnene Zinswende in Europa und den USA hinzu, ergibt sich eine kaum berechenbare Gemengelage für die kommenden Monate.
Obwohl auch die globalen Wachstumsprognosen zuletzt nach unten korrigiert wurden, bleiben die Erwartungen für die Weltwirtschaft vorerst ebenfalls positiv. So rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem erwarteten globalen Wachstum in Höhe von 3,6 Prozent für 2022 sowie 2023.
Trotz des derzeitigen, stagflationär wirkenden Schocks mit der Folge sinkender Wachstums- und gleichzeitig steigender Inflationserwartungen ist die Gefahr des Abrutschens in eine jahrelange Stagflationsphase jedoch gering. Dagegen spricht die in den kommenden Jahren voraussichtlich sehr hohe Investitionsnachfrage von Staaten und Unternehmen zur Umsetzung der Dekarbonisierung und zur Steigerung der Resilienz von Lieferketten, Gesundheitssystemen und der Energieversorgung. Aber auch die Konsumnachfrage bleibt angesichts positiver Entwicklungen an den Arbeitsmärkten, dem Trend zu steigenden Löhnen – auch durch demografische Effekte – sowie dem coronabedingten Nachfragestau stabil hoch. Sobald sich die bestehenden Unsicherheiten und angebotsseitigen Verzögerungen beginnen aufzulösen, dürfte die Wachstumsdynamik daher wieder schnell und deutlich zulegen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) nähert sich in diesem Umfeld nur sehr langsam einem weniger expansiven geldpolitischen Kurs an. Zugegeben, die Gemengelage ist derzeit sehr komplex. Die Zwickmühle besteht aus weiter steigenden Inflationsraten, der fehlenden Aussicht auf eine zeitnahe Besserung der Situation bei den Kernpreistreibern Energie- und Rohstoffkosten sowie Lieferengpässen und beginnenden Ausstrahleffekten auf andere Inflationskomponenten einerseits und den offensichtlichen Wachstumsrisiken andererseits. Auch darf kein Zweifel an der Refinanzierungsfähigkeit aller Eurostaaten in einem Umfeld bereits deutlich steigender Marktzinsen aufkommen.
Immerhin hat die Notenbank aber auf ihrer letzten Ratssitzung im April die Beendigung der Nettowertpapierkäufe im Rahmen des APP-Programms im dritten Quartal konkreter in Aussicht gestellt. Leitzinsanhebungen sollen abhängig von der EZB-eigenen Inflationsprojektion für die kommenden Jahre erfolgen. Die Voraussetzung ist ein Erreichen des Inflationsziels von zwei Prozent deutlich vor und ein Halten dieses Niveaus bis zum Ende des Projektionszeitraums im Jahr 2024.
Angesichts des immer stärkeren Inflationsdrucks sollte die Notenbank diese Bedingung dringend durch eine entsprechende Anhebung ihrer eigenen Erwartungen im Rahmen des nächsten Zinsentscheids Anfang Juni selbst erfüllen, um der Loslösung einer sich selbst erfüllenden Spirale immer weiter steigender Inflationserwartungen entgegenzutreten. Die konkrete Perspektive von Leitzinsanhebungen im Laufe des zweiten Halbjahres 2022 würde zumindest den Eurokurs stabilisieren, dessen Schwäche aktuell den Einkauf von vielfach in US-Dollar gehandelten Rohstoffen und sonstigen Gütern zusätzlich verteuert. Um trotz zu Beginn der Zinswende im Laufe des Jahres keine erneute Staatsschuldenkrise in der Eurozone zu riskieren, ist seit einiger Zeit die Einführung eines Mechanismus für eine Krisenintervention im Gespräch, mit dessen Hilfe man einzelnen Staaten im Falle stark steigender Zinsen beiseite stehen könnte. Zwar gibt es dazu noch keine konkreten Verlautbarungen vonseiten der Notenbank, idealerweise reicht aber auch eine vage Ankündigung und es käme gar nicht erst zu einer Spekulation des Marktes auf stark steigende Risikoprämien.
